Holz ist ein wunderbarer Zeuge der Vergangenheit. Weil man ihr Alter fast bis aufs Jahr genau bestimmen kann, sind alte Bohlen und Balken wie Einträge im Kalender der Jahrhunderte. Wenn feststeht, wie alt das Holz ist, kann man sich die Welt um es herum vorstellen.
Vom Holz wissen wir, dass das Haus, das jetzt unser Hotel ist, 1579 gebaut wurde (die Balken, die man heute noch an manchen Stellen sehen kann, stammen von zwischen 1575 und 1578 gefällten Bäumen). Zu dieser Zeit hatte Lüneburg blendende Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte hinter sich. Schon früh war es ein wichtiges Mitglied der Hanse geworden, jenem Bündnis von Handelsstädten, das den Warenverkehr Nordeuropas kontrollierte. Lüneburg hatte Salz, und es war das Salz, das Lüneburg reich und einflussreich gemacht hatte: Salz, das zum Pökeln der Ostsee-Heringe benötigt wurde, die wiederum Fastenspeise im katholisch geprägten Europa waren. Auch, wenn man sich das heute kaum noch vorstellen kann: Der Handel mit diesem Fisch war damals ein gewaltiges Geschäft. Deshalb gab es Mitte des 16. Jahrhunderts in der Hanse nur wenige Städte, die mächtiger waren als Lüneburg. Bergen in Norwegen vielleicht. Visby, weil dort die Fischerboote ankerten. Und Lübeck, der große Umschlagplatz zwischen Land und Meer.
Wir wissen nicht, ob Jürgen Barteldes eine Ahnung davon hatte, dass Lüneburgs Goldenes Zeitalter sich dem Ende entgegen neigte, als er sein Haus erbauen ließ. Innerhalb weniger Jahre würden England und Russland dem Hansebündnis zusetzen und ein portugiesischer Seemann im Auftrag der Spanischen Krone eine Neue Welt entdecken. Die Heringszüge vor der Küste Schonens würden ausbleiben. Niemand in Lüneburg würde mehr Geld für neue Häuser haben. Und später, viel später, würden Besucher über die unglaubliche, mittelalterliche Bausubstanz der Stadt staunen.
Doch noch war die Stadt reich, und Jürgen Barteldes vermögend, also bekam sein Haus einen Staffelgiebel, wie die herrschaftlichen Kaufmannshäuser in den Straßen am Markt. Außerdem hatte er Sinn für das Schöne. Die Stube zum Beispiel ließ er dekorieren: Ornamente und stilisierte Blumen zierten jedes der Gefache, der Flächen zwischen den Fachwerkbalken. Reste dieser Malereien kann man heute noch sehen, in der Stube, die heute unser Salon ist. Die Küche gleich dahinter liegt übrigens genau dort, wo auch schon die Küche der Barteldes lag. Manche Dinge ändern sich nicht. Auch nicht in beinahe 500 Jahren.
Sonst aber ist viel passiert im Laufe der Jahrhunderte. Das Haus wechselte seine Besitzer und Bewohner, Menschen kamen und gingen, und mit ihnen ihre Freunde und Familien, ihre Möbel und Kleider, ihre Gespräche und Gedanken, ihre Hoffnungen und Träume. Immer wieder wurde an- und umgebaut, und 1874 dann sogar aufgestockt: Damals erhielt das Haus seine vierte Etage.
2010 kamen dann wir. Haben entkernt und restauriert, haben abgetragen und erneuert und gestützt und verstärkt. Wo immer es möglich war, haben wir die Spuren der Vergangenheit aus dem Dunkel der Geschichte geholt und sie offen gelegt: Mauern und Balken, Malereien und Bespannungen.
Und vielleicht macht sich ja irgendwann in ferner, ferner Zukunft jemand die Mühe und restauriert das Haus in der Lünertorstraße 3 ein weiteres Mal. Möglicherweise stellt er dann fest, dass hier einmal ein Hotel war. Ein Hotel, in dem Reisende übernachteten und Besucher sich wohlfühlten. Und vielleicht stellt er sich dann vor, wie es gewesen sein mag, damals, vor langer Zeit, im 21. Jahrhundert. In der Lünertorstraße, mitten im Wasserviertel, mitten in Lüneburg.